30.07.2018

Historische Pyrenäen-Etappe bewältigt

Cyrill Gassler hat über sechs traditionsreiche Pässe – mit 6‘420 Höhenmetern und einer Totaldistanz von 315 Kilometern – den Mythos von den „Giganten der Landstrasse“ bei der Tour de France in Erfahrung gebracht.

(fs) – Am Mittwoch, 20. Juni 2018, kurz nach 20 Uhr im Stadtzentrum von Bayonne: Cyrill Gassler hat es geschafft! Er setzte sein tollkühnes Vorhaben in die Tat um, den beschwerlichen Weg ins französische Baskenland solo zurückzulegen. „Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als ich dort ankam und meine Begleiter erblickte.“ Zugleich fügt er an, dass eine solch anspruchsvolle Tagesroute der langfristigen Vorbereitung und Unterstützung auf verschiedenen Ebenen bedurfte. Entsprechend schloss er alle Beteiligten in die Dankesworte ein.

Ueber die namhaftesten Pässe in den französischen Pyrenäen sass Cyrill Gassler während 14 Stunden und 45 Minuten im Sattel. Dabei verbrauchte er 6‘850 Kcal. Auf der zweiten Streckenhälfte weiter westwärts in Richtung Atlantik kämpfte er gegen den stark aufkommenden Wind und die brutale Hitze an. Allen Widerwärtigkeiten zum Trotz gelang es ihm, die Monster-Etappe 108 Jahre nach der Premiere in einem „Ritt“ zu meistern.

Vergangenheit und Gegenwart

Gestern Sonntag endete die 105. Austragung der „Grande Boucle“ – auf Deutsch „Grosse Schleife“ – mit dem Gesamtsieg des Walisers Geraint Thomas. Anno 1910 gab es eine zukunftsweisende Aenderung, als die Pyrenäen-Pässe ins Tour-Programm aufgenommen wurden. Ein Jahr zuvor war der Reporter Alphonse Steines in der wilden Gegend unterwegs, um befahrbare Forst- und Passstrassen zu erkunden. „Unmöglich ist es nicht“, lautete die Antwort. Mit der Gebirgskette im Grenzgebiet zu Spanien fing eine neue Epoche an. Im zwölften Teilstück mussten die Teilnehmer auf den unbefestigten Strassen ihr Rad teilweise schieben. Als der spätere Sieger Octave Lapize den letzten Pass überquerte, war er auf die Organisatoren nicht gut zu sprechen und fluchte erschöpft: „Ihr verdammten Mörder!“ Eine Neuerung betraf auch den Besenwagen, der die Ausgeschiedenen einsammelte und in den Zielort transportierte.

Ausdauersport als Leidenschaft

Der gebürtige Koblenzer – geboren am 26. Januar 1951 und Mitglied des Männerturnvereins – ist ein leidenschaftlicher Ausdauersportler. In jungen Jahren waren Marathon-, Cross- und Skilangläufe seine Passion. Vor 25 Jahren entdeckte er die Liebe zum Rennrad. Seitdem spulte er zigtausend Kilometer in der Schweiz, an der Costa Blanca und bei zehn Pyrenäen-Rundfahrten ab, meistens als Gruppenleiter bei den Radsportreisen von Gusti Zollinger aus Tegerfelden. Im Juli rückte jeweils die Tour de France in den Mittelpunkt seines Interesses. Seit der Pensionierung vor zweieinhalb Jahren hatte er mehr Zeit, sich damit eingehend zu beschäftigen. Besonders inspiriert wurde er von den abenteuerlichen Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert.

Intensive Vorbereitungsphase

Bei Cyrill Gassler setzte sich der Gedanke fest, die legendäre Etappe von 1910 als persönliche Herausforderung unter die Räder zu nehmen. „Eine erste Tuchfühlung vor Jahresfrist mit einem Aufenthalt in Bagnères de Luchon verdeutlichte mir, dass die konditionelle Voraussetzung noch nicht genügte. Mit speziellen Aktivitäten im Herbst und im Frühjahr in Spanien, einem umfangreichen Langlaufpensum sowie dem letzten Schliff vor Ort im Mai bereitete ich mich gezielt darauf vor.“

Konkret bedeutete dies, dass er im Sommer 2017 eine einwöchige Dolomiten-Tour über 23 Pässe mit 20‘000 Höhenmetern bestritt. Im Winter lief er rund 1‘700 Kilometer auf den Skating-Skiern. Seit anfangs Jahr kamen 6‘500 Trainingskilometer auf dem Rad dazu. In den letzten zwei Wochen war viel Erholung und Massage angesagt. Auf die mentale Stärke legte er besonderen Wert, was sich auszahlen sollte. Die elfstündige Hinreise im Teambus – zusammen mit Peter Schiffner, von den Radsportferien in Spanien bekannt, und Lebensgefährtin Agnes Schäfer – erfolgte vier Tage vorher. Diese Massnahme diente zur Akklimatisation.

Am Tag der Wahrheit…!

Die Nacht ging um halb drei Uhr zu Ende. So hatte Cyrill Gassler reichlich Zeit, die Energiespeicher mit Kohlenhydraten aufzufüllen. Dazu gehörte eine zünftige Portion Müsli. Ebenfalls wichtig war die Präparation der Bekleidung, besonders das Sitzleder der Hose musste gründlich gefettet werden. Beim Start um exakt 04:00 Uhr war es stockdunkel, nur die Sterne leuchteten in voller Pracht. Auf dem BMC-Rennrad – für die eigenen Bedürfnisse vom Bike-Sport Matter in Koblenz ausgestattet – nahm er am Ortsausgang von Luchon den Aufstieg zum Col de Peyresourde in Angriff. Bei einer Temperatur von 16 Grad stellte das Fahren bei Dunkelheit eine neue Erfahrung dar. Nach einer guten Stunde war die Passhöhe erreicht. Auch die Abfahrt wurde noch mit der 1500 Lux-Lampe und teilweise im Scheinwerferlicht des Begleitautos absolviert.

Auf dem Dach der Pyrenäen

Hinauf zum Col d’Aspin - mit bis zu 10 Steigungsprozenten – präsentierte sich die Kulisse postkartenreif. Die Sonne ging langsam auf und färbte die Berge glutrot. Die Abfahrt hinunter nach St. Marie de Campagne gestaltete sich bei vorzüglichen Strassenverhältnissen rasant. Dann fing der 20 km lange Aufstieg zum Col du Tourmalet auf 2‘115 Metern an. Unmittelbar vor der Passhöhe weideten Lamas auf den Hängen. Sie lagen seelenruhig zwischen den Autos und blockierten die Fahrbahn. Es herrschte ein riesiger Trubel durch einen holländischen Veranstalter, der eine Volkstour mit Rennrädern, Mountainbikes und zu Fuss organisierte. Deshalb erforderte die heikle Talfahrt höchste Konzentration. Wegen Vorbereitungsarbeiten für die diesjährige Tour-Etappe am 27. Juli 2018 war der Belag bei gewissen Stellen ausgebessert und gesplittet.

Quer durch das Unwettergebiet

Das Zwischenstück von Luz-Saint-Sauveur bis Argelez-Gasost erwies sich bei angenehmen Temperaturen als erholsam. Der Anstieg zum Col du Soulor erforderte jedoch viel Kraft. Dazu ergänzt Cyrill Gassler: „Es wurde immer heisser, als ich eine Rampe mit 15 Prozent Steigung bewältigte. Da kam die Pause auf dem Kulminationspunkt gerade recht, um mit Crepes meine Speicher aufzuladen.“ Danach folgte der 7 km lange Aufstieg zum Col d’Aubisque auf 1‘709 Metern. Schon vorher zeichnete sich eine chaotische Abfahrt ab. Ein heftiges Unwetter verursachte in der Vorwoche grosse Schäden. Die Strasse war auf hundert Meter zur Hälfte weggebrochen, weshalb die Schlammlawinen zu Fuss überquert werden mussten. Zudem lagen Steine und Geröll kilometerlang auf der Fahrbahn. Während die Radler über den Pass durften, war er für den Autoverkehr gesperrt. Das Begleitfahrzeug – stets als lose Betreuung unterwegs – nahm einen Umweg in Richtung Lourdes. Die Fahrzeit auf diesem Abschnitt dauerte 20 Minuten länger als in der Marschtabelle vorgesehen.

Leidensweg bis zum Schluss

Ab Laruns begann über 160 Kilometer der Kampf gegen die „Wellen“ der Pyrenäen-Ausläufer, den Gegenwind vom Atlantik und die fortschreitende Müdigkeit. Verstärkt wurde die Tortur durch die abnormal heissen Temperaturen von über 40 Grad. Trotz literweiser Zufuhr von Flüssigkeit mit Salzen und Magnesium zeigten sich erste Krampferscheinungen. Bei Kilometer 230 war der letzte Anstieg zum 495 Meter hohen Col d’Osquich – eigentlich ein Sandhügel – eine echte Herausforderung und Qual. In dieser Situation konnte sich Cyrill Gassler mit dem Gedanken des Gewinners von 1910 identifizieren. Er hat es auch lautstark geäussert. Mit dem Ziel vor Augen mobilisierte er bei erträglichen Bedingungen die allerletzten Reserven. So traf er in guter Haltung überglücklich in Bayonne ein.

Zwei Tage nach der Rückkehr waren Cyrill Gassler die Strapazen keinesfalls anzumerken. Er hatte soeben eine Ausfahrt über den Regensberger hinter sich. Auf die Frage, ob er ein derartiges Abenteuer nochmals plant und andere ermuntert, antwortet er: „Sicher, es muss ja nicht gerade das Race Across America sein.“

Text zum Foto: Cyrill Gassler in den obersten Kurven beim Aufstieg zum Col d’Aspin